Anno 2014 herrscht Stau bei den Gedenktagen: 100 Jahre Erster Weltkrieg, 75 Jahre Zweiter Weltkrieg, 25 Jahre Friedliche Revolution und Mauerfall, 175 Jahre Eisenbahn – um nur einige zu nennen. Nicht vergessen werden darf: 250 Jahre Buch-Revolution mit dem „Revolutionsführer“ Philipp Erasmus Reich an der Spitze. Ein wichtiges Ereignis für Leipzig und die Bücherwelt.
Einem legendären Herrscher wurde gleich zu Beginn gedacht: Am 28. Januar vor 1.200 Jahren starb in Aachen Kaiser Karl der Große, in dem viele den Großvater Europas sehen. Ein anderer Großer wurde rund 900 Jahre später geboren: Philipp Erasmus Reich (1.12.1717-3.12.1787).
Der kletterte erst auf den Chefsessel der in Leipzig ansässigen Weidmannschen Buchhandlung, ein damals führendes Verlagsunternehmen im deutschsprachigen Raum, und reifte dann sogar zu einem „Gottvater der Bücherwelt“.
Als seinen Hauptrivalen hatte Reich sich den Wiener Hofbuchdrucker Thomas von Trattner (20.12.1717-31.7.1798) ausgeguckt, der im Rückblick als ein Ahnherr der Piraten-Partei betrachtet werden könnte. Es entwickelte sich ein Kampf der Giganten, der schließlich eskalierte.
Ein Nord-Süd-Konflikt zugleich, in dem der von der Aufklärung geprägte Norden Deutschlands mit den katholisch dominierten süddeutschen Landen rivalisierte.
In diesem Umfeld sah Reich in Trattner einen hemmungslosen Raubkopierer, der sich gemeinsam mit seinen Spießgesellen die Frankfurter Buchmesse als „Schatzinsel“ ausgesucht hatte.
Nicht ohne Grund, denn nachdem der Mainzer Johannes Gutenberg (1400-3.2.1468) ab 1450 mit einem Bündel an Erfindungen den Buchdruck revolutioniert hatte, stieg Frankfurt am Main für fast drei Jahrhunderte zur führenden Buchstadt in Deutschland auf.
Im Jahre 1764 griff Philipp Erasmus Reich das Establishment frontal an, indem er die Frankfurter Buchmesse boykottierte und damit eine Kettenreaktion auslöste. Mit gravierenden Folgen auch für die nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) stetig gewachsene Buchstadt Leipzig, die nun zur neuen Nummer eins aufstieg – und es bis 1945 unangefochten blieb.
Die deutsche Kaiserin Maria Theresia (13.5.1717-29.11.1780) erhob Thomas von Trattner nach dieser Pleite zum Trost in den Reichsritterstand, so dass er sich fortan Johann Thomas, Edler von Trattner nannte …
Philipp Erasmus Reich avancierte unterdessen zu einem Gründervater des Urheberrechts und stieg zur Kultfigur auf. Bis heute huldigt ihm eine treue „Religionsgemeinschaft“, deren „Hohepriester“ der Leipziger Verleger und Mainzer Buchwissenschaftler Dr. Mark Lehmstedt ist.
1989 zum 225. Jahrestag der Buch-Revolution wirkte Mark Lehmstedt am Ausstellungskatalog „Philipp Erasmus Reich (1717-1787). Verleger der Aufklärung und Reformer des deutschen Buchhandels“ mit. Ein Jahr später schrieb er an der Universität Leipzig seine Doktorarbeit zum Thema: „Struktur und Arbeitsweise eines Verlages der deutschen Aufklärung. Die Weidmannsche Buchhandlung in Leipzig unter der Leitung von Philipp Erasmus Reich zwischen 1745 und 1787.“
Reich wuchs zu einem „Meister der Meilensteine“: Mit der „Buchhandlungsgesellschaft“ schuf er einen richtungsweisenden Buchhändler-Interessenverband. Durch sein Wirken löste die Geldwirtschaft den Tauschhandel im Verlagsgeschäft ab, wurde die Raubkopie zum Sündenfall und damit die Lebensgrundlage freier Autoren geschaffen, stieg der Leipziger Platz zum Mittelpunkt der Bücherwelt auf.
Philipp Erasmus Reich besaß ein ausgezeichnetes Gespür für gute Autoren und war ein kluger Kaufmann. Das machte ihn erfolgreich. Ein streitbarer Geist, der früh vor den Schwierigkeiten mit den Selbstverlagen warnte. Auch wenn ihm das manche Gegnerschaft brachte, wie die mit dem gefeierten Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (2.7.1724-14.3.1803), der einst die fürstliche Querdenker-Schmiede Schulpforte besuchte.
Den „Fürst des deutschen Buchhandels“ hielt das nicht ab von seinem Tun. Sein Denken und Handeln ist heute aktuell wie lange nicht mehr. Auch deshalb zählt Reich zu den Schlüsselfiguren in der Geschichte des Buchhandels. So wie bei der Revolution vor 250 Jahren, die Leipzig auf den Thron der Bücherwelt hob.
Auf modernen „Piraten“-Inseln ist der Name Reich nicht geläufig. Für den Namen Trattner gilt das ebenso. Die Sachlagen ähneln sich, doch in die Historie blickt man selten zurück. Politik lebt auch vom Vergessen. Zuweilen ist das unverzichtbar und in der Folge positiv. Vielleicht zugleich ein Grund, warum sich Geschichte manchmal „wiederholt“ …
Holger Gemmer