In diesen Tagen wird das wiedervereinte Deutschland 25 Jahre alt. In Leipzig geht die Erinnerung um, gerade hier. Denn die Stadt ist im wilden Geschehen der Wende der Brennpunkt gewesen. Hier hatten sich gute alte Tugenden wieder einmal zuerst stark gemacht – für internationale Sichtweite, für kritisches Denken, für Toleranz und Aufmüpfigkeit, sogar den humorvollen Umgang miteinander. Das verdeutlicht der Roman „Ostpoker. Eine Frau deckt ihre Karten auf“.
Es scheint, den Alteingesessenen sind solche Bestrebungen längst in Fleisch und Blut übergegangen, was ihnen so etwas wie eine typische Leipziger Mentalität verleiht. Der Einheimischen Gisela Renner ist dieses Charisma gewiss zu eigen, was allen ihren Handlungen etwas witzig Rigoroses beigibt.
Obwohl von einem besonders harten Schicksal betroffen, das nur im geteilten Deutschland möglich war, bleibt sie stets ein gewitztes Leipziger Original. Sie wurde die Protagonistin des biographischen Romans „Ostpoker. Eine Frau deckt ihre Karten auf“, erschienen im Anthea Verlag.
Die überraschenden Einzelheiten dieses lockeren literarischen Enthüllungsprozesses trägt die Autorin Traude Engelmann seit 1990 mit sich herum. Nun hat ihnen der eingangs genannte aktuelle Anlass den Durchbruch in die Öffentlichkeit verschafft.
Damit ist in doppelter Hinsicht ein Erinnerungsknüller zutage getreten: Eine Vierzigjährige denkt an die erste Hälfte ihres Lebens zurück, und das – weil es 1951 in Leipzig begann und vor allem hier verlief – durch den Fokus der Wendezeit. Vorgehalten wird ein Spiegel des Anfangs und des Endes einer deutschen Epoche, ein ziemlich blank geputzter.
Daran hat die Autorin – bekannt geworden durch Artikel, Romane, Erzählungen – fleißig gearbeitet. Sie verbürgt sich dafür, ohne Ansehen von außenstehenden Personen und irgendwelchen politischen Interessengruppen vorgegangen zu sein. Ganz nach dem Vorbild ihrer Protagonistin, deren Ehrlichkeit sie immer geschätzt habe.
„Gisela Renner, wie ich sie nenne“, sagt Traude Engelmann, „hat nie ein Blatt vor den Mund genommen. Ihre Sprache war volkstümlich, unverkrampft und gespickt mit den Worthülsen ihrer Jugendjahre in einem heute als ehemalig bezeichneten Land. Ich ließ sie reden, so wie sie es als richtig empfand, und erfuhr Ungeheuerliches und dennoch Authentisches. Das mich staunen ließ, betroffen machte, sogar das Gruseln lehrte. Und immer in Spannung versetzte.“
Was mich selbst an dem Buch besonders amüsiert, sind die vielen Details des Alltagslebens im Osten. Ganz nebenbei wird erwähnt, was für 25 Gramm Kaffee der Marke Kosta zu bezahlen war, was eine Kaderschmiede darstellte, wer im Intershop einkaufen konnte, dass der Fischkoch im Fernsehen meistens die Makrele empfahl. Und vieles, vieles andere mehr.
Doch die Substanz des unruhigen Lebens von Gisela Renner besteht aus der ungeheuren Fülle der Ereignisse. Schon als Baby von ihrer unverheirateten Mutter durch Flucht in den Westen verlassen, wird sie an die Hand genommen allein von Vater Staat.
Dessen Zwängen setzt sie von Kindesbeinen an Widerstand entgegen. Wodurch sie sich stets intensiveren Zwängen ausgesetzt sieht, wie denen einer ungeliebten Pflegefamilie, eines Durchgangsheims für aufgegriffene Jugendliche, einer geschlossenen medizinischen Behandlungsstätte, eines Jugendwerkhofs.
Mit zunehmendem Alter und der Wahrnehmung ihrer persönlichen Chancen aber wird sie zahmer und arrangiert sich, mit den offiziellen Möglichkeiten glücklich zu werden. Die Hoffnung auf einen gut funktionierenden Sozialismus im Land begeistert sie sogar und veranlasst sie dazu, in Gremien der Gewerkschaft, der FDJ, der SED aktiv zu werden und einen geheimen Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit zu übernehmen.
Aber ihre naive, rein menschliche Absicht kollidiert stets mit der durch Phrasen kaschierten dogmatischen Erwartungshaltungshaltung ihrer Auftraggeber. Die Eskalation ist unausweichlich.
Die damit verbundene schmerzhafte Ernüchterung wird sichtbar gemacht mittels zahlreicher alltäglicher Ereignisse, über die die Autorin ihre Protagonistin ungeschönt sprechen lässt. Auch deren Bekenntnisse zu eigenen haarsträubenden Fehlern lässt sie nicht aus.
Das umfangreiche Sündenregister enthält sogar einen Mordanschlag, den Gisela Renner bald selbst als untauglich dafür einschätzt, sich ihren Weg zu ebnen. Sie erkennt, dass sie sich ihrem kaum gestillten Bindungshunger zu sehr ausgeliefert hat, um kluge Entscheidungen zu treffen. Dass sie den Liebesentzug in ihrer Kindheit mit dessen gefährlicher Kehrseite ausgleichen wollte.
Als die Wende kommt und damit die Bekanntschaft mit ihrer leiblichen Mutter sowie einer nach kapitalistischen Regeln funktionierenden Lebensweise, treten neue Enttäuschungen in ihr Leben. Ihre Hoffnung auf eine Gesellschaft, in der „keiner alleingelassen wird“, scheint törichter zu sein denn je. Aber noch hat sie eine Zukunft, die sie nutzen will.
Mir gefällt, dass die Autorin die Einzelheiten dieser gnadenlosen Lebensbeichte unverfälscht wiedergibt und deren Authentizität zeigt. Gisela Renners Meinungsäußerungen, so subjektiv sie sein mögen, sind weder auf Beschönigung noch Gesamtverurteilung der gescheiterten Staatspolitik ausgerichtet.
Auch findet die beliebte Unterscheidung nach Opfern und Tätern nicht statt. Alles Geschehen ist miteinander verstrickt. Unbedarften Lesern, wie jungen Leuten und schon immer weit entfernt lebenden Bürgern, bietet sich hier auf 300 Seiten ein wertvolles Zeitzeugnis ohne Klischees. Und das ist eine Seltenheit.
Innerhalb der literarischen Veranstaltungsreihe „Der durstige Pegasus“ in der „Moritzbastei“ in der Universitätsstraße 9 stellt Moderator Elia van Scirouvsky am Montag, dem 26. Oktober, um 20 Uhr neben zwei anderen bekannten Leipziger Autoren Traude Engelmann mit ihrem biographischen Roman „Ostpoker“ vor. Anlass ist der traditionelle „Leipziger Literarische Herbst“, der diesmal den Themen „1000-jähriges Leipzig“ und „25-jährige Deutsche Einheit“ gewidmet wird.
Pia Kollande